
Klimmzüge an der Nidda
Prioritätenverschiebende Wahrnehmungsveränderungen
Als das erste zaghafte Licht der Morgensonne durch das Blätterdach blinzelte, lag ein flüchtiger Nebelschleier über dem feuchten Waldboden.
Es war nicht leicht gewesen sich zu so früher Stunde aus dem Bett zu quälen
, resümierte er schlaftrunken. Sein Weg führte ihn über leere Wanderwege und vorbei an trostlosen Trimm-dich-Gerätschaften. Psily the Kid war schon immer ein sehr experimentierfreudiger Zeitgenosse gewesen. Ziel seiner neuesten, psychotropen Selbstversuchsreihe war es, unvorhersehbare Synästhesien hervorzurufen. Die Testphase steuerte immer schneller auf ihren ersten Höhepunkt zu.
Unwegsames Gelände erschwerten den Weg. Schweiß rann ihm von der Stirn. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken an die auditive Verschmelzung mit dem Geschmack von grober Bauernleberwurst. Würde es nicht einen wunderbaren Geruch hervorrufen, wenn sein Lieblingsalbum Check Your Head an den knusprigen Scheidewänden seiner Nase emporklettert? Was für ungeahnte Möglichkeiten sich für ihn eröffnen würden, wenn er es bewerkstelligen könnte, seinen chaotischen Tagesablauf vor seinem geistigen Auge sequenzanalytisch zu kartographieren!
Im lichten Dickicht des Niddaparks begann er gespannt und leicht zittrig, ein ansehnliches Exemplar des Blaugrünfleckenden Kahlkopfes sanft aus seinem taubedeckten Moosbett zu ziehen. Seine Nackenhaare stellten sich im selben Moment auf, als seine ledrigen Lippen den Pilz berührten und kamelartig den hirschkäfergroßen Hut von seinem mehlmottigen Stil abzupften. Er kniff die Augen zusammen. Seine schreckhafte Zunge glitt angewidert über die zarten Lamellen. Den ersten Würgereflex krampfhaft unterdrückend, schluckte er den leicht klebrigen, gelbbraunen Hut angeekelt herunter. Ein Geschmack von faulen Eiern, die seit tausend Jahren im Sud ranziger Tierkadaver dahinvegetierten. Übelkeit war gar kein Ausdruck. Mit Tränen in den Augen sah er bibbernd auf den Rest des Pilzes: Der fahlweiße Stil blickte in erwartungsfroh an. Muss ich wirklich?
Während er langsam aus dem Gebüsch robbte, zwang er sich den wiederholten Brechreizen nicht nachzugeben. Die Sonne war nun schon weiter gewandert. Das Würgen nahm in seiner Intensität langsam ab. Wie laut die Vögel heute zwitschern!
Ein erhöhter Speichelfluss übermannte ihn schlagartig. Es war kein Fluss mehr, nein, es war ein unbändiger Strom, er kam gar nicht mehr hinterher ihn spukend und rotzend aus seinem befremdlichen Körper zu befördern. Schließlich gab er auf und folgte zeitverzögert seinen Füßen nun mit offenem Mund, aus dem sich der Speichel in langen Fäden den Weg Richtung Grasnarbe bahnte. Obwohl es erst 7:24 Uhr war, fing er von einer Sekunde auf die nächste, auch noch zu schwitzen an. Er gab das mühevolle Fortbewegen auf und widmete sich ganzheitlich dem mannigfaltigen Gesang der Vögel, der ihn umschwirrte. In diesem Moment gab es für ihn nur noch seine flatternden Kehlchen; und in verzückenden Tönen aus ockerfarbenem Gelb verschmolzen Rezipient und Kommunikatorenschar in der gleißenden Gischt der Ozeane …
Nach einer zeitlosen Weile fand er sich, dicht auf dem Trimm-dich-Pfad, neben einer Klimmzugstange wieder. Er schmiegte sich liebevoll an deren Pfosten. Wie lange er wohl schon hier war? In einigen Meter Abstand guckte ihn eine graue Dame aus ihrem stählernen, schwer bewaffneten Rollator ungläubig an. Lass sie gehen!
, hauchte ihm die Klimmzugstange zärtlich in seinen Nacken. Alles was zählt, sind wir beide!
Du hast Recht
, murmelte Psily schließlich und erwiderte gedankenverloren ihre groben Annäherungsversuche.